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Weltmetropole Berlin – Hauptstadt der prekären Arbeit

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Der Einladung vom ver.di Ortsverein Berlin Nordwest, der AfA Charlottenburg-Wilmersdorf sowie der AfA Reinickendorf am 05.09.2018 zu den Themen

Wie Tarifflucht und Lohndumping bekämpfen?

Wie Tarifverträge in der Privatwirtschaft durchsetzen?

waren 25 interessierte Kolleginnen und Kollegen gefolgt und beteiligten sich im [SPD] Wahlkreisbüro von Franziska Becker (MdA) an der lebhaften Diskussion.

Der AfA-Kreisvorsitzende von Charlottenburg-Wilmersdorf Gotthard Krupp gab einen Rückblick auf die Erfolge der Beschäftigten in den landeseigenen bzw. landesbeteiligten Betrieben wie z. B. VIVANTES, Botanischer Garten, Charité/CFM und Technikmuseum durch entsprechende Streikmaßnahmen gegen prekäre Arbeitsbedingungen.

Aber auch in der Privatwirtschaft ist prekäre Arbeit weitverbreitet. Als Beispiel wurde die Situation im Einzelhandel aufgezeigt. Die angebliche Forderung der Kunden rund um die Uhr einkaufen zu können und der damit verbundene Wunsch nach Verlängerungen der Öffnungszeiten bzw. Sonntagsöffnungen sowie die Zunahme von Geschäftsmodellen wie „Späti“ und Gemischtwarenläden hat zur Folge, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen zunehmend prekärer geworden sind.

Hierzu gab Petra Ringer, Gewerkschaftssekretärin der Gewerkschaft ver.di, Fachbereich Handel den Anwesenden eine kleine Abfolge der Situation für die Beschäftigten: Der tarifliche Stundenlohn beträgt zwar 15,31 € bei einer 37,5 Stunden/Woche (lt. Flächentarifvertrag), jedoch liegt die Vollzeitquote gerade einmal bei 30 %. Auch wenn die monatlichen Statistiken des Arbeitsmarktes einen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Berlin lobpreisen (Fachkräfte müssten eigentlich sehr gefragt sein), sind im Handel die Befristungen sehr hoch und die neu geschaffenen Arbeitsplätze haben lediglich eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 – 30 Stunden. Von diesen erzielbaren Lohnzahlungen kann man nicht gut leben.

Diese Situation verschärft sich noch durch die Tatsache, dass z. B. lediglich 26 % tarifgebundene Unternehmen in Berlin (West!) zu verzeichnen sind. Wie ist dies zu erklären? Wer z. B. denkt bei EDEKA zu kaufen, der kauft eben nicht direkt bei EDEKA, denn die meisten Läden dieser Handelskette werden in Form eines „Franchisenehmers“, d. h. eines kleinen selbstständigen Kaufmanns mit eigener Personalverantwortung betrieben. Der Gegenpart für die Arbeitnehmer ist also ein kleiner – häufig nicht tarifvertragsgebundener – Unternehmer. Der Slogan: „Wir lieben Lebensmittel“ ist sehr markant. Liebt Edeka aber auch „ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen?“, dies ist aufgrund dieser Bedingungen nicht ganz so eindeutig. Andererseits gibt es auch Edeka-Filialen, die den Flächentarifvertrag anwenden.

Auch unter dem Logo von REWE arbeiten eigenverantwortliche Einzelunternehmer, dies hat zur Folge, dass nur 40 % der REWE-Unternehmen tarifgebunden sind. Die Bedingungen sind also ähnlich wie oben geschildert. Die Bedingungen in anderen Einzelhandelsbereichen sind ähnlicher Natur. Aufgrund dieser Zersplitterung hat ver.di es sehr schwer die Arbeitnehmer gewerkschaftlich zu organisieren. Der Organisationsgrad der Arbeitnehmer liegt bei nur 30 %, was zur Folge hat, dass durch die nicht so hohe Kampfkraft der Gewerkschaften die Lohnzahlungen verhältnismäßig gering sind und damit die Altersarmut der im Handel Beschäftigten vorprogrammiert ist.

An diese Bemerkung knüpfte Sebastian Riesner, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten an. Er erinnerte an die Historie des Mindestlohns. „Nicht aus der Position der Stärke, sondern aus der Position der Schwäche habe man ver.di mit ins Boot geholt“ und nach 10 Jahren gewerkschaftlicher und politischer Auseinandersetzung wurde dann der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Als Dank verließen reihenweise Kolleginnen und Kollegen die NGG, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, dass die Gewerkschaften nicht mehr für ihre Arbeitsbedingungen zuständig sind.

Einige Eckdaten für Berlin: In Berlin sind ca. 40.000 Beschäftigte im Hotel- und Gaststättengewerbe zu verzeichnen. 850 Hotels bzw. Beherbergungsbetriebe gibt es zurzeit, 35 Hotels mit ca. 35.000 Betten kommen in absehbarer Zeit noch dazu. Die Anzahl der gastronomischen Betriebe liegt bei ca. 10.400. Die Bedeutung dieser Branche ist für die Weltmetropole bedeutsam, dies müsste sich auch in der Höhe der Löhne und guter Arbeitsbedingungen widerspiegeln. Die Realität ist eine andere.

Die Zahl der tarifvertragsgebundenen Betriebe wurde mit 10 % angegeben, was vorrangig an dem DEHOGA-Arbeitgeberverband liegt, der widersinnigerweise eine Mitgliedschaft ohne Tarifvertragsbindung ermöglicht. Trotz dieses Umstandes, der nicht zufriedenstellenden Fakten, ist die NGG stolz auf den Abschluss eines Tarifvertrages mit der DEHOGA. Die Verhandlungen liefen „relativ geräuschlos“ ab. Spannend werden künftige Verhandlungen mit der DEHOGA, da der Verhandlungsführer auf Arbeitgeberseite gewechselt hat.

Volker Prasuhn, Vorsitzender des Bezirksfachbereichsvorstandes Besondere Dienstleistungen, ver.di Bezirk Berlin erklärte kurz die „Vielfältigkeit der Möglichkeiten der Tarifbindung und Arbeitsbedingungen“ in landeseigenen Betrieben bzw. Betrieben mit Landesbeteiligung: Alte Tarifverträge, alte Arbeitsverträge, Arbeitsverträge bei Betriebsübergang, „Leiharbeit“, „Werkverträge“ usw. Eine ungerechtfertigte „Flexibilität“, die zur Unruhe in der Arbeitnehmerschaft geführt hat. Die Erfolge z. B. im Technikmuseum und Botanischen Garten konnten nur durch einen Zusammenschluss von aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Unternehmen mit Unterstützung der Gewerkschaften erreicht werden. Nur so konnten kämpferische Kolleginnen und Kollegen die „Geschäftsführer mit neo-liberaler Geisteshaltung“ an den Verhandlungstisch zwingen. Zusätzlich wurde politischer Druck auf den rot-rot-grünen Senat ausgeübt, der dann letztlich zu einem Umdenken geführt hat. „Dabei konnte nur der TVÖD/TVL die Messlatte sein und nicht das Meinungsbild des Finanzsenators.“

„Ausgründungen seien politisch gewollt und durch die Hartz-Gesetzgebung manifestiert!“ Hierzu meinte Sebastian Riesner unterstützend: „Wenn Menschen sich ihren Wert an ihrer Arbeit sicher sind und kämpfen, dann gibt es einen Tarifvertrag!“ und bedankte sich ausdrücklich für die solidarische Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen des Botanischen Gartens bei einem von der NGG durchgeführten Streik.

In der anschließenden Diskussion wurde bemängelt, dass Kolleginnen und Kollegen oftmals keine Kraft mehr hätten sich für Verbesserungen einzusetzen und dass Befristungen oft auch gesundheitsgefährdende Beschäftigungen (z. B. durch Verzicht auf zeitraubende Arbeitsschutzmaßnahmen) fördern. Ein weiteres Problem wurde angesprochen: Durch Ausgründungen bzw. Zerschlagung eines Gesamtbetriebes gäbe es zwar kleinteilige Betriebsräte, aber eben keinen Gesamtbetriebsrat mehr. Dies bedeutet sinkende Durchschlagskraft bei der Interessenvertretung der Beschäftigten.

Kritisch wurde die Arbeit des Zolls (Finanzkontrolle Schwarzarbeit – FKS) gesehen, da diese Kontrollen nur dem Staat dienlich sind, jedoch nicht den betrogenen Arbeitnehmern. Jeder Arbeitnehmer, der nicht seinen Mindestlohn erhält, weil der Arbeitgeber trickst, muss trotz Beanstandung durch den Zoll den Arbeitgeber einzeln verklagen. Dies trauen sich kaum prekär beschäftigte Arbeitnehmer, trotz Zusage der Gewerkschaften, sie im Arbeitsgerichtsprozess zu unterstützen.

Im Nahrungs- und Genußmittelbereich seien durch die Möglichkeit der Mitgliedschaft ohne Tarifvertragsbindung im jeweiligen Arbeitgeberverband auch Unternehmer am Werke, die zwar mit Tariflohnzahlungen des Verbandes werben, aber z. B. keine Tariflohnanpassungen zahlen. Dies geschieht mit dem Argument: „Schauen sie mal in die Bewertungsgruppen…was sie alles leisten müssen…um die Lohnerhöhung zu bekommen!“

Ferner wurde in der Veranstaltung auch über Erfolge durch einige betroffene Kolleginnen und Kollegen berichtet. So konnte in einem „angesagten“ Hostel durch die gewerkschaftliche Organisierung eines großen Teils der Beschäftigten in der NGG ein Haustarifvertrag erkämpft und abgeschlossen werden. Dieser Erfolg macht Mut im mühsamen Kampf um bessere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen. Wobei immer das langfristige Ziel sein muss, einen Flächentarifvertrag abzuschließen.

Einig war man sich, dass das geltende Betriebsverfassungsgesetz nicht nur von Arbeitgeberseite geschrieben, sondern im Wesentlichen durch die Kampfkraft der Gewerkschaften beeinflusst wurde. Ferner müssen die Gewerkschaften ihre Angebote zur Bildungsarbeit überdenken und verbessern.

Zum Schluss der Veranstaltung wünschten sich die Organisatoren der Veranstaltung eine weitere und breitere öffentliche Diskussion über die Tatsache der prekären Arbeit und der Tarifflucht von privaten und öffentlichen Arbeitgebern. Dies wird nicht ausreichen. Zusätzlich muss Druck durch einen von allen DGB-Gewerkschaften getragener „Aktiver Aktionsausschuss“ ausgeübt werden. Ziel muss es sein, dass der demokratische Rechtsstaat dieses Handeln ächtet und entsprechende Gesetze und deren wirksame Kontrolle organisiert.

Für die AfA-Reinickendorf: Marcus Striek, Reiner H. Knecht.

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