Die Einkommen in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren polarisiert, und das gleich auf zwei Ebenen: Zum einen ist die Gruppe der mittleren Einkommen geschrumpft, weil der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze deutlich und der über der statistischen Reichtumsgrenze etwas zugenommen hat. Zum zweiten haben sich Armut und Reichtum verfestigt. Das lässt sich daran ablesen, dass mehr Haushalte über mindestens fünf Jahre hinweg einkommensarm beziehungsweise einkommensreich sind, wobei die Tendenz bei armen Haushalten erneut deutlich ausgeprägter ist. Zudem zeigen sich wesentliche Unterschiede nach Geschlecht und Region: Dauerhafte Armut kommt in Ostdeutschland etwa sechs Mal so häufig vor wie in den alten Bundesländern. Westdeutsche Männer haben am häufigsten ein dauerhaft hohes Einkommen: Etwa zwei Drittel der Wohlhabenden sind männlich, insgesamt leben 95 Prozent der Einkommensreichen in den alten Bundesländern. Bildung und Vollzeiterwerbstätigkeit sind wesentliche Faktoren, um Armut zu vermeiden und ein höheres Einkommen zu erzielen. Daher müssen soziale Hürden beim Bildungszugang abgebaut und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter verbessert werden. Zu diesem Ergebnis kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Stabilität der Gesellschaft habe ihr Fundament im „Gründungsversprechen der deutschen Demokratie, dass sich jede und jeder Kraft eigener Leistung, flankiert von sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen, einen Platz in der Mitte der Gesellschaft sichern kann“, schreibt WSI-Verteilungsexpertin Dr. Dorothee Spannagel in ihrer Studie, die heute auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt wird. Doch die Realität sehe anders aus, warnt die Forscherin. „Nicht nur geht die Einkommensschere auf, auch die Lebenswelten von Armen, Mittelschicht und Reichen fallen immer weiter auseinander.“ Dieser Prozess beschleunige sich, wenn die soziale Mobilität weiter sinke, weil auf die Dauer beispielsweise die soziale Mischung von Wohnvierteln abnehme. „Nur, wenn es gelingt, verfestigte Armut aufzubrechen und zu verhindern, dass sich die Reichen von der Gesellschaft absetzen, gelingt es auch, jene gut integrierte gesellschaftliche Mitte zu erhalten und zu stärken, auf der die Stabilität unserer Demokratie beruht“, betont die WSI-Expertin.
Der Verteilungsbericht nutzt die neuesten verfügbaren Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), die sich auf das Jahr 2015 beziehen. In der Widerholungsbefragung SOEP machen jährlich 11.000 Haushalte unter anderem Angaben zu ihren Einkommen. Basis der Analyse ist das reale verfügbare Haushaltseinkommen, also das Einkommen nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen, inklusive aller Sozialtransfers wie beispielsweise Kinder- oder Arbeitslosengeld. Über ein Gewichtungsverfahren sind Haushalte unterschiedlicher Größe direkt vergleichbar. Bei der Abgrenzung von einkommensarmen und einkommensreichen Haushalten folgt die WSI-Expertin den gängigen Regeln, die etwa auch im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung angewandt werden: Als arm gilt ein Haushalt, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. 2015 lag die Armutsgrenze bei einem Netto-Jahreseinkommen von weniger als 12.192 Euro für einen Singlehaushalt. Als reich werden Haushalte bezeichnet, die mindestens das doppelte des mittleren Einkommens erzielen. Das galt etwa für einen Alleinstehenden, der im Jahr mindestens über 40.639 Euro netto verfügen konnte.
Damit sei die gängige Reichtumsgrenze vergleichsweise niedrig, zumal extrem hohe Einkommen im SOEP untererfasst sind, betont Forscherin Spannagel. Außerdem fehlen seit der Aussetzung der Vermögensteuer verlässliche Daten zu den Vermögen, die in Deutschland noch deutlich ungleicher verteilt sind als die Einkommen und gerade für den gut abgesicherten Status sehr reicher Haushalte eine große Rolle spielen. Gleichwohl sei das 200-Prozent-Kriterium bei den Einkommen geeignet, um nicht die Spitze, wohl aber die „Breite des Reichtums“ abzubilden: Lediglich acht Prozent der Bevölkerung leben oberhalb dieser Grenze.
Markanter Anstieg der Armutsquote
Im Langzeitvergleich seit den 1990er Jahren zeigt sich nach Spannagels Analyse vor allem bei der Armut ein markanter, weitgehend kontinuierlicher Anstieg: Waren damals rund 11 Prozent aller Menschen in Deutschland einkommensarm, stieg die Quote bis auf knapp 16,8 Prozent im aktuellsten Jahr 2015 (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). In den letzten Jahren ging der Anstieg vor allem auf Flüchtlinge zurück, die Armutsquote unter in Deutschland Geborenen blieb stabil. Allerdings ergibt sich auch unter ihnen eine höhere Armutsbelastung als in den 1990er Jahren. Der Anteil der Bevölkerung in einkommensreichen Haushalten variiert über die Jahre etwas stärker, der langfristige Trend ist aber ebenfalls klar aufsteigend: Von 5,59 Prozent Anfang und gut sechs Prozent Ende der 1990er Jahre erreichte die Quote der Einkommensreichen ihren bisherigen Höchststand von fast 8,3 Prozent im Jahr 2014. 2015 lag sie bei 7,46 Prozent.
Weniger schaffen es, in 5 Jahren aus der Armut zu kommen
Besonders problematisch ist nach Analyse der Forscherin, dass sich parallel zu den Anstiegen sowohl die Einkommensarmut als auch der Einkommensreichtum verfestigt haben. Dabei war die Entwicklung bei armen Haushalten erneut deutlich stärker als bei reichen. Das zeigt der Vergleich von drei 5-Jahres-Zeiträumen. So hatten 3,1 Prozent der Bevölkerung zwischen 1991 und 1995 in jedem dieser Jahre nur ein Einkommen unter der Armutsgrenze zur Verfügung. Dagegen waren es im Zeitraum von 2001 bis 2005 bereits knapp 5,2 Prozent, die sich auch über fünf Jahre nicht aus der Armut lösen konnten. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung stieg der Anteil in den fünf Jahren von 2011 bis 2015 noch einmal leicht auf nunmehr 5,4 Prozent. Knapp die Hälfte davon, 2,4 Prozent, haben nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Das entspricht fast zwei Millionen Menschen, die dauerhaft in so genannter „strenger Armut“ leben müssen. In Ostdeutschland ist die Quote der dauerhaft Armen mit knapp 6,4 Prozent Anteil an der dortigen Bevölkerung noch einmal spürbar höher als im bundesweiten Durchschnitt (Abbildung 3).
Bei den Einkommensreichen ist die dauerhafte Verfestigung weniger ausgeprägt. Der Anteil der Menschen, die über fünf Jahre mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens verdienen, stieg in Westdeutschland in den drei Vergleichszeiträumen von rund 2,3 über 2,7 auf gut 3,4 Prozent (Abbildung 4). In Ostdeutschland ist stabiler Einkommensreichtum zwar auch etwas angestiegen, aber weitaus seltener als im Westen: Erzielten in den Jahren von 2001 bis 2005 knapp 1,7 Prozent ein Einkommen von mehr als 200 Prozent des Medians, waren es zwischen 2011 und 2015 gut 2,1 Prozent. Für die 1990er Jahre lässt sich nichts sagen, weil die Fallzahlen im SOEP zu gering waren. Da die große Mehrheit der Menschen mit einem dauerhaft hohen Einkommen im Westen lebt, liegt der gesamtdeutsche Wert nah am westdeutschen. Lediglich in den 1990er Jahren weicht er aufgrund eines statistischen Sondereffekts, ausgelöst durch die Wiedervereinigung, ab. An der Spitze der Gruppe der Einkommensreichen stehen diejenigen Personen, die mindestens das Dreifache des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Sie machen laut SOEP seit den 2000er Jahren stabil 0,6 Prozent der Bevölkerung aus.
Klare Schere zwischen West und Ost, Frauen und Männern
Als dritten Faktor, der die Entwicklung besorgniserregend erscheinen lässt, nennt Studienautorin Spannagel, dass sich dauerhafte Armut und dauerhafter Reichtum in bestimmten Regionen und Bevölkerungsgruppen konzentrieren und aktuelle Trends am Arbeitsmarkt die Verfestigung weiter begünstigen dürften, wenn nicht gegengesteuert wird:
- West-Ost: 95 Prozent der dauerhaft Einkommensreichen in der Bundesrepublik leben in West-, nur fünf Prozent in Ostdeutschland. Hingegen leben knapp 62 Prozent der dauerhaft Armen leben in den neuen Ländern, obwohl dort nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ansässig ist.
- Mann-Frau: Etwa drei Viertel der dauerhaft Einkommensreichen sind Männer. Unter den dauerhaft Armen stellen dagegen Frauen die Mehrheit. Allerdings ist der Unterschied hier nicht so groß: 54 Prozent weiblich, 46 Prozent männlich.
- Bildung: Je höher die Bildung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, ein hohes Einkommen zu erzielen. Dauerhafte Armut droht hingegen besonders häufig Menschen mit niedrigen Abschlüssen. Das ist nicht überraschend, betont Spannagel, aufgrund der sozialen Segregation, die im deutschen Bildungswesen besonders ausgeprägt ist, aber ein großes Problem: „Aus der Bildungsforschung wissen wir ja auch, dass Kinder aus Haushalten mit hohen Einkommen mit einem klaren Vorteil auf ihren Bildungsweg gehen. Hier schließt sich also der Kreis, Armut und Reichtum werden vererbt.“
- Vollzeit-Teilzeit: Erwerbstätigkeit in Vollzeit schützt nach den SOEP-Daten klar vor dauerhafter Armut. Selbständige, Angestellte und Beamte, die Vollzeit arbeiten, haben zugleich die höchsten Chancen auf dauerhaften Einkommensreichtum. Für Teilzeitbeschäftigte oder Menschen mit Minijobs bestehen hingegen kaum Aussichten auf ein hohes Einkommen. Dabei hat vor allem Teilzeit in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen.
- Zwei Einkommen vs. eines: Alleinerziehende und Singles tragen das höchste Risiko, dauerhaft arm zu bleiben. Dagegen erzielen Doppelverdiener ohne Kinder am häufigsten dauerhaft hohe Einkommen: Knapp 55 Prozent der dauerhaft Einkommensreichen sind Paare ohne Nachwuchs im Haushalt.
Aus ihren Befunden leitet WSI-Expertin Spannagel vier zentrale Handlungsfelder ab, um weiterer Polarisierung entgegen zu wirken:
- Lohnungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschland verringern: Aktuell liegt das mittlere Bruttoarbeitseinkommen für versicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in Westdeutschland bei 3.339 Euro im Monat. In Ostdeutschland sind es lediglich 2.600 Euro. Diese Diskrepanz gelte es zu verringern. Dabei spielten nicht nur Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur eine große Rolle, die im Osten stärker von Kleinbetrieben geprägt ist. Ein wichtiger Faktor seien auch Tarifverträge, die in den alten Ländern für deutlich mehr Beschäftigte gelten als in den neuen.
- Bildungsungleichheit reduzieren: Hier anzusetzen sei zentral, wenn man soziale Mobilität stärken will. Von frühester Kindheit an müssten Kinder aus benachteiligten Familien gezielt gefördert werden, um ihnen einen Bildungsabschluss zu ermöglichen, der tatsächlich auch ihren Begabungen entspricht.
- Langzeitarbeitslosigkeit abbauen: Eine dauerhaft gesicherte, gut bezahlte sozialversicherungspflichte Beschäftigung ist ein wirksamer Schutz vor dauerhafter Armut. Geeignete Instrumente zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit setzten vor allem bei der gezielten individuellen Förderung der Langzeitarbeitslosen an. Das umfasse intensive Beratung, etwa im Fall von Überschuldung oder gesundheitlichen Problemen sowie umfangreiche qualifikationsadäquate Weiterbildungsangebote, schreibt die Forscherin. Personen, die keine Chancen haben, dauerhaft auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, müsse der Zugang zu öffentlich geförderter Beschäftigung ermöglicht werden.
- Mehrverdienerhaushalte fördern: Leben in einem Haushalt mehr als ein Verdiener, sinkt das Risiko, dass dieser Haushalte dauerhaft von Armut betroffen ist, zeigt die WSI-Analyse. Daher bleibe eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Top-Thema, damit Männer wie Frauen in Haushalten mit Kindern erwerbstätig sein können. Die Forscherin empfiehlt einen weiteren Ausbau und möglichst auch den kostenlosen Zugang zu Kinderbetreuung ebenso wie flexiblere Arbeitszeitmodelle für erwerbstätige Eltern. Solche Maßnahmen kämen insbesondere auch Alleinerziehenden zugute – einer Bevölkerungsgruppe, die überdurchschnittlich häufig in dauerhafter Armut lebt.
Weitere Informationen:
Dorothee Spannagel: Dauerhafte Armut und verfestigter Reichtum (pdf). WSI Verteilungsbericht 2018. WSI Report Nr.43, November 2018.